Episoden aus China
2018.08.23Wir wurden vom Flughafen in Peking mit einer komplett verdunkelten Limousine abgeholt, die uns zu unserem Bestimmungsort nach Qinhuangdao bringen sollte. Für den Fahrer schien die lokale Straßenverkehrsordnung nicht zu gelten, und es dauerte nicht lange, bis wir auf der Autobahn an einem Kontrollpunkt von einem mit Maschinenpistolen bewaffneten Trupp von Polizisten zur Kontrolle angehalten wurden.
Zwischen dem Fahrer und einem der Polizisten wurde es zunehmend lauter, bis der Fahrer dem Polizisten schließlich Unterlagen überreichte, woraufhin ein anderer Polizist uns durch die von außen undurchsichtige Scheibe anwies, diese herunterzulassen. Mein Kollege schaute ihn genervt an, und der Polizist wurde leicht blass und wich zurück. Bis zum nächsten Kontrollpunkt hatten wir eine kleine Eskorte, und danach wurden wir an den nächsten Kontrollpunkten direkt durchgewunken.
Auf der weiteren Strecke fielen mir immer wieder Blöcke von Hochhäusern mitten im Nichts auf, die den kargen und verbrauchten Landstrich durchsprängten. Leider schlief mein Kollege und den Fahrer konnte ich ebenfalls nicht fragen, der sehr damit beschäftigt war, sich zurückzuhalten, andere Autos nicht einfach von der Autobahn zu kegeln.
Auf einer Autobahnraststätte in China
Vor unseren Gesprächen vor Ort fragte ich meinen Kollegen, ob es etwas zu beachten gäbe, dass ich vielleicht nicht wüsste oder aufgrund der Dringlichkeit der Sache wichtig wäre. Er lächelte mich nur an, und sagte, dass ich die Erfahrung schon selbst machen sollte, wenn es für mich kein Problem wäre. Wir hätten schließlich eine Woche Zeit, und der letzte Tag würde letztlich ohnehin wie der Erste sein.
Es dauerte nur wenige Stunden, bis ich eine Idee davon bekam, was er meinte, während er jeden in derselben monotonen Art fast anzubrüllen schien: Allein die Tonlage von dem, was ich sagte, war ausschlaggebend für meine Gesprächspartner:innen, was genau ich denn meinen könnte. Statt sich darauf zu konzentrieren, was ich sagte, ging es bald darum, wie ich etwas sagte und vielleicht meinen könnte.
Nach einer Woche waren wir schließlich so weit und hatten unsere Arbeit getan, bis ich bei der Zusammenfassung offensichtlich etwas anders aussprach, und alles, was wir in der Woche besprachen und umsetzten, nie stattgefunden zu haben schien, und so machten wir am letzten Tag die gesamte Arbeit der Woche noch mal.
Ein Blick aus einem Hotelzimmer in Shanhaiguan
Anders als mein Kollege, der schon zuvor diverse Male in China gewesen ist, wollte ich das Angebot nicht ausschlagen mit einigen aus der Belegschaft abends informell Essen zu gehen. Für mich war es wichtig, persönliche Beziehungen aufzubauen und auch mehr über kulturelle Gepflogenheiten herauszufinden, während genau das für meinen Kollegen der Grund war, es nicht zu tun.
Wir gingen in ein Restaurant, bei dem sämtliche Zutaten im Erdgeschoss wie auf einem kleinen Markt präsentiert wurden, die dann zubereitet und im ersten Stock serviert würden. Unsere Ansprechpartnerin erklärte mir insbesondere die Fische und Hummer sehr genau, und wies mich an, welche ich bestellen könne und welche nicht: Viele wären einfach von schlechter Qualität und miserablen Umweltbedingungen ausgesetzt, und sie würde versuchen, nur von lokalen Fischereien und Zulieferern, zu denen es einen echten menschlichen Bezug gäbe, ihre Nahrungsmittel zu beziehen, was allerdings schwierig sei, weil es die meisten Chines:innen schlicht nicht interessieren würde. „Das wird noch zu einem Problem für uns“, merkte sie an.
Im oberen Stockwerk wurden wir schließlich in ein Separee geführt, woraufhin ich entgegnete, dass das für mich nicht sein müsste. „Doch“, sagte unsere Ansprechpartnerin. „Du möchtest als Europäer beim Essen in so einem Restaurant Chines:innen nicht sehen und schon gar nicht hören.“
Peking bei Nacht
Bei einem der Mittagessen, die wir für die Belegschaft unverständlicherweise mit ihr zusammen in der Kantine einnahmen, unterhielt ich mich mit unserer Ansprechpartnerin darüber, wie das „Wie“ das „Was“ bei unserer Arbeit deutlich überschattete und wie es sich auf sie auswirkte. So kamen wir darauf, wie Wörter im Chinesischen nur durch die Betonung eine andere Bedeutung haben können, so wie „Qi“. Sie lächelte mich an, und fragte „Wie welches Wort?“, woraufhin ich erneut „Qi“ sagte. Sie schüttelte ihren Kopf, bis ich es ihr auf dem Handy zeigte. Dann lachte sie, und sagte, „Ah, Qi!“
Während sie uns amüsiert ansah, erklärte sie uns, dass Qi auch noch so viele Bedeutungen haben könne, wie Energie oder Atem, aber auch Luft und Gas, oder Dampf und Hauch, und ferner auch Temperament, Kraft oder Atmosphäre, und dass es außerdem die Emotionen des Menschen bezeichnet, und nach moderner daoistischer Auffassung auch die Tätigkeit des neurohormonalen Systems.
In einer Hotellobby in Shanhaiguan
Wir wurden jeden Morgen mit der Limousine vom Hotel abgeholt und zu unserem Auftragsort gefahren. Den ersten Morgen machte ich mir über die Route keine Gedanken, beim zweiten fiel mir allerdings auf, dass die Route nicht die schnellste sei. Unser Fahrer erklärte eher widerwillig, dass wir sicher kein Interesse an den verlassenen Olympia-Standorten hätten, wir den Straßenreiniger:innen am Morgen bestimmt nicht zusehen wollen würden, oder den alten Leuten, die in den wenigen verblieben offenen Flächen in der Stadt Taijiquan praktizierten.
„Schon“, entgegnete ich, was unseren Fahrer sehr verwunderte. „Wenn ich schon hier bin, möchte ich auch Land und Leute kennenlernen“, sagte ich, und wunderte mich laut und scherzhaft über das Fehlen von roten Laternen und Buddha-Statuen. Mein Kollege lächelte nur. Unser Fahrer überlegte kurz, und erklärte, dass China gerade so im Umbruch sei und sich modernisiere, dass alles Alte als schlecht angesehen werde. „Wirklich alles!“, betonte er, und fand es interessant, dass es immer wieder das sei, was Menschen aus dem Westen so faszinierend fänden: „Damit kommt man doch nicht weiter.“
Am nächsten Tag zeigte uns der Fahrer dann auch, was das bedeutete. „Früher war diese Straße zweispurig, und die Hochhäuser grenzten an. Dann wuchs das Verkehrsaufkommen, die Hochhäuser wurden abgerissen, und die Straßen wurden dreispurig gemacht, und die Hochhäuser wieder bis zur Straße gebaut. Das Verkehrsaufkommen wuchs weiter, die Hochhäuser wieder abgerissen, die Straßen vierspurig, und die Hochhäuser stehen wieder bis zur Straße. Mal sehen wie lange.“ erzählte er, aber nicht entgeistert, sondern gleichgültig.
Ich merkte dann die interessanten Ampeln an, woraufhin uns unser Fahrer erklärte, dass sie eine Mischung aus Ampeln, Überwachung und Geschwindigkeitskontrollen sein. Ob wir das mal erleben möchte, fragte er, und ehe wir etwas sagen konnten, beschleunigte er den Wagen über eine rote Kreuzung, und wurden sofort geblitzt. Er lachte, und sagte „Pass mal auf!“, und verwies auf sein Handy. „Bis zur nächsten Kreuzung ist das Knöllchen da.“
Es dauerte nur ungleich länger.
Eine Seitenstraße in Peking
Das Hotel, in dem wir untergebracht wurden, war erst wenige Jahre alt, und machte einen unglaublich guten ersten Eindruck. Beim näheren Hinsehen fiel allerdings auf, dass es diese Versprechen nicht halten könnte, weil die Substanz nicht entsprechend gepflegt wurde.
„Von Europäern gebaut, von Chinesen gepflegt“, sagte mein Kollege nur schulterzuckend, „Da fehlt noch etwas das Verständnis für, warum etwas gepflegt werden sollte.“ Und im Zweifel würden sie das Hotel ohnehin entweder leer stehen lassen oder abreißen und ein Neues bauen.
Der Drachenkopf
Als Dankeschön für unsere Arbeit bot man uns eine Führung über die Große Mauer an. Mein Kollege lehnte dankend ab: „Ist nur ’ne Mauer.“ Ich nahm die Geste sehr gerne an, und wurde instruiert am nächsten Morgen eine halbe Stunde früher zur Abholung bereitzustehen, damit die Mauer nicht so lange für mich abgesperrt werden müsste. Ich schaute etwas verwundert, und dachte mich vielleicht einfach verhört zu haben.
Als ich am nächsten Tag von unserer Ansprechpartnerin, einem anderen Fahrer, und zwei Touristen-Führern abgeholt wurde, erzählten sie mir auf dem Weg zur Großen Mauer etwas über die Geschichte, wie sie hier in dem Ort zwar der Drachenkopf sei und trotzdem als Ende gelten würde, wie das eigentliche Ende irgendwo in der Wüste im wahrsten Sinne des Wortes im Sande verlaufen würde, wie einige Teile der Mauer in Privatbesitz seien. Und unsere Ansprechpartnerin erzählte darüber hinaus, wie die Mauer insbesondere genau das noch immer den Köpfen der Leute sei: „die Menschen auf unserer Seite der Mauer“ und eben „die Bauern auf der anderen Seite der Mauer.“
Schließlich angekommen war ich von zwei Dingen wirklich überrascht: Dass das Areal eher etwas von einem Vergnügungspark hat, und dass ich nebst meiner Begleitung tatsächlich der einzige Mensch erst vor Ort war. Ich hielt etwas irritiert Rücksprache mit unserer Ansprechpartnerin, die mir genau das versicherte, was ich am Vortag gehört zu haben glaubte, dass für mich eine exklusive Führung des Areals und der Mauer arrangiert wurde. „Und, so unter uns“, wenn es mir keine Umstände bereiten würde, mir dann auch alles anzusehen, aber bitte nicht zu lange.
Etwas überwältigt bedankte ich mich und nutzte direkt meine Zeit und fragte so viel wie möglich. Tatsächlich hatte mich mein Eindruck vom Vergnügungspark nicht getäuscht: Die meisten Chines:innen, die die Lange Chinesische Mauer hier besuchen würden, kämen für eine gute Zeit und Kurzausflüge, um an Stände zu gehen und zu essen und um Vorführungen beizuwohnen. „Freundlicherweise“ wurden für mich die Stände nur erst später aufgebaut. Wie sehr die Mauer selbst dann auch nur eine Mauer ist, merkte ich, als ich schließlich auf der Mauer stand, und ein direkt an die Mauer angrenzenden Sportplatz entdeckte. Und geben genau das, was mein Kollege sagte: Es ist nur eine Mauer. Aber eine verdammt lange, die ich bis zum Horizont in die Berge sehen konnte.
Nachdem einer der beiden Touristen-Führer immer mehr damit beschäftigt gewesen ist in der Distanz andere Menschen davon abzuhalten das Gelände und letztlich die Mauer zu betreten bat ich dann auch freundlich um die Weiterreise zu meinem Auftragsort, damit ich auch da meine Wertschätzung weiter zeigen kann.
Auf dem Rückweg zum Auto fragte ich nach Postkarten, was mit amüsierter Verwunderung aufgenommen wurde. Es gab einen kleinen Souvenir-Shop bei der Mauer, und ich kaufte ein Dutzend, und als ich gefragt wurde, was ich denn damit vorhätte, entgegnete ich, dass ich gerne Freund:innen und Kolleg:innen Postkarten schicken würde. „Nach Deutschland?“, fragte meine Ansprechpartnerin, „Aber warum?“ So etwas Altmodisches wäre ihr bisher noch nicht in echt untergekommen.
Wir machten auf dem Rückweg einen Umweg zu einer Post, damit unsere Ansprechpartnerin für entsprechende Frankierung sorgen konnte – mit den Unterlagen, die auch unser Fahrer auf der Autobahn zeigte, mit einem Finger in meine Richtung, und etwas lauterem Austausch. Sie lächelte höflich, aber sichtlich aufgerieben und übergab mir die Briefmarken mit dem Hinweis, dass es schon so zwei, drei Monate dauern könnte, bis die Postkarten ankommen würden. „Weil sie auf Deutsch sind, müssen sie zum Übersetzen vorher erst nach Peking“ rutschte ihr unabsichtlich raus.
Schließlich am Arbeitsplatz angekommen empfing mich mein Kollege. „Und? Ist nur ’ne Mauer, oder?“ fragte er lachend. „Ist nur eine Mauer. Aber eine ziemlich, ziemlich große.“ sagte ich.
Blick von der Chinesischen Mauer
Ein kleines großes Problem hatten wir, als es um wichtige Dokumente ging, die für den weiteren Ablauf notwendig waren. Zuerst vermuteten wir ein inhaltliches Problem, bis die Sache schließlich zum Vorstand eskaliert wurde, der uns um ein persönliches Treffen bat.
Nach einigem Hin und Her fanden wir den Grund heraus: Bei einigen der Unterlagen, die wir mitgebracht hatten, war der Stempel blau. Und das führte dazu, dass der zuständige Vertreter von der Kommunistischen Partei im Gebäude an der Echtheit der Dokumente zweifelte – alles, was in China offiziell ist, hat einen roten Stempel.
Nach etwas hin und her, diversen Telefonaten und Recherche von Fotos von offiziellen Stellen in Deutschland, die blaue Stempel benutzten, konnten wir das Problem lösen. Wir müssten die Dokumente dann nur mit einem roten Stempel nachreichen.
Der Flughafen in Peking
Als wir für unsere Abreise schließlich in Peking am Flughafen ankamen, wollten wir uns nach der langen Autofahrt in der Business Lounge erholen. Wir hatten noch drei Stunden Zeit bevor wir zurückfliegen würden. Durch zu viel Ruhe, dem Versichern meines Kollegen, dass wir ja nicht am Gate anstehen müssten, und dem Unterschätzen wie weit es bis zu unserem Gate wirklich war verpassten wir schließlich unseren Flug, und wir kümmerten uns sofort um eine alternative Rückreisemöglichkeit. Zum Glück von meinem Kollegen konnten wir für wenige hundert Euro auf einen Flug am nächsten Tag umbuchen, der „leider“ auch noch ein Direktflug nach Düsseldorf gewesen ist.
Sichtlich erleichtert mussten wir uns nur noch um eine Übernachtungsmöglichkeit kümmern, und ich bestand darauf, lieber in Peking selbst als in der Nähe am Flughafen zu schlafen. In Peking selbst kannte mein Kollege noch ein Hotel, in dem er früher gewesen ist, musste aber auf dem Weg dorthin feststellen, dass sein geliebtes Hard Rock Café nicht länger existierte.
Als Alternative suchte ich einen Teppanyaki-Grill heraus, zu dem wir ohne Reservierung gingen. Am Empfang angekommen wurden wir auch entsprechend begrüßt und gefragt, und als wir entgegneten, dass wir eben keine Reservierung hätten, ging einer der Angestellten zu einem Teppanyaki und komplementierte die dort sitzenden Leute an einen anderen Tisch, sehr zu deren Unmut. Als wir spätestens da nicht mehr gehen konnten, setzten wir uns, und beharrten darauf, dass die weggeschickten Gäste sich gerne mit dazu setzen dürften.
Wir tauschen mit ihnen ein paar Geschichten aus, und später am Abend unterhielten mein Kollege und ich uns über unsere und meine Erfahrungen in der Woche, und wie so stilecht zu Ende gingen, und eben auch, wie wir einige Dinge einfach nicht mitbekommen und in welchem Kontext sie passieren, selbst wenn wir uns Mühe gaben: Mit dem besten wohl besten Fisch und Fleisch, dass ich mitunter je gegessen hatte, und den ganzen Getränken, die wir getrunken hatten und unseren Sitznachbarn, die wir einluden, zahlten wir gerade mal €20 pro Person.
Auf dem Rückweg zum Hotel entdeckten wir viele Streetfood-Stände, die erst jetzt aufmachten. „Damit wir nicht sehen können, was da serviert wird“ scherzte mein Kollege. Gefährlicher als das Essen waren aber die Roller – seit geraumer Zeit fuhren bereits da nur noch Elektroroller durch Peking, bei denen sich die Fahrer:innen nicht darum scheren, ob man sie kommen sah oder nicht.
Am nächsten Morgen stand ich besonders früh auf, um mir Peking am Morgen anzuschauen, und stellte dabei fest, dass auch so eine Stadt wie jede andere erst mal aufwachen muss. Ich brachte meinem Kollegen einen Kaffee mit, und wir machten uns sehr zeitig auf den Weg zum Flughafen, und dieses Mal nicht den Flug verpassten.
Dieser Post ist Teil 11 von 12 in der Sammlung „Anekdoten“.