„Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ ist ein in praktisch allen Kulturen und Weltanschauungen bekannter Grundsatz von angewandter Ethik. Er wird daher auch als ethischer Minimalkonsens angenommen: die Goldene Regel.

Trotzdem scheint ein Blick in die Welt zu vermitteln, dass diese Goldene Regel nicht funktioniert, oder sich zumindest selten daran gehalten wird. Aber warum, wenn doch alle etwas davon haben würden, und selbst wenn vielleicht nur egoistisch motiviert?


Ich erinnere mich an einen Urlaub in der arabischen Welt, in dem mir jemand irgendwann schließlich sagte, „leben und leben lassen, nicht?“

„Leben und leben lassen.“ Das ist auch so schön gesagt, hat eine gewisse Eleganz, und klingt zumindest so, als würden Menschen, wenn schon die Goldene Regel nicht befolgt würde, einander wenigstens nicht behelligen und ihr Ding machen lassen. Sie benötigt deutlich weniger Energie in der Umsetzung, was ihre Umsetzung eigentlich begünstigen sollte.

Vielleicht zum Glück: Hier lässt ein Blick in die Welt erkennen, dass es vornehmlich das Mantra von Menschen ist, die andere gerne ihrer „Eigenverantwortung“ überlassen, die sie nicht als Teil ihres meist gehobenen sozialen Umfelds sehen, oder von denen, die sich dabei irrtümlich auf der anderen Seite des Tisches sehen.


Natürlich wäre es leicht zu sagen und sich damit zufrieden zu geben, dass diese Goldenen Regeln an der Realität anderer Menschen scheitern, selbstverständlich aus Sicht aller anderen Menschen. Dass uns halt besonders die Beispiele auffallen, die diesen Regeln zuwiderlaufen, und wir nunmal dazu neigen, diese überrepräsentativ wahrzunehmen. Und, wenn wir uns gelegentlich gegenseitig nur an diese Regeln erinnern, wir alle schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass das doch nur in unser aller Interesse sei, weil doch nunmal jeder davon etwas hat, und sie dann doch gelten und funktionieren.

Da gibt es nur ein Problem – etwas, dass die meisten Menschen lange hinter sich gelassen haben, ihnen zum Glück zuwiderläuft, und es sie deshalb auf fast zynische Art und Weise nicht mehr glauben und damit umgehen lässt, dass einige Menschen eine ganz andere Goldene Regel haben und diese in nicht mehr nachvollziehbarer Konsequenz und nicht verhandelbar befolgen:

„Jeder bekommt das, was sie verdienen.“

In etwa wie: „Wenn jemand arm ist, dann haben sie es wohl verdient. Wenn jemand reich ist, dann haben sie es wohl verdient. Mir geht es gut, also habe ich das verdient. Jemand ist krank, also haben sie es verdient. Wenn jemand unter meinem Erfolg zu leiden hat, verdient. Unter dem Erfolg anderer? Unter dem Misserfolg anderer? Verdient, verdient. Ihre Verantwortung. Nur, wer an sich denkt, kann bekommen, was sie verdienen. Und alles andere ist deshalb nicht mein Problem.“

Dabei ist es nicht so, als würden nur privilegierte Menschen dieser Art von tribalistischem Denken folgen. Oder dass diese Menschen schlicht nicht über notwendige intellektuelle Kapazitäten verfügen würden, oder nicht rational seien. Das wäre ein Fehler, das zu glauben, und aus ihrer Sicht, in ihrer Situation und unmittelbar sind sie perfekt rational.

Und da alle Menschen nur minimal bessere Status-Affen sind, und darüber hinaus dazu neigen, danach zu handeln, wo sie sich gerne sehen, statt danach, wo sie tatsächlich sind, führt das mit dem damit einhergehenden Anspruchsdenken bei einer hinreichend großen kritischen Masse zu Problemen für uns alle.

Etwas verkürzt an dieser Stelle und überlappend mit einem anderen Thema: In einer durch und durch globalisierten und immer komplexer werdenden Welt, mit immer weniger nachzuvollziehenden Ursachen und Wirkungen, verstärkt sich dieses äußerst reaktionäre Verhalten auch noch. „Wir gegen sie“ ist dafür der einfachste Weg und Intoleranz die Konsequenz. Und das ist vielen Demagogen bewusst.

Empathie ist für die meisten Menschen ohnehin schon schwer genug, und dabei die Grundvoraussetzung für jede Art von Goldener Regel, von der alle profitieren können. Und ob wir es glauben wollen oder nicht: Für Menschen, die dieser jeder-gegen-jeden-Regel folgen, ist ein nicht-tribalistisches Wir nicht nachvollziehbar; es ist ein nicht vermittelbares Konzept, weil es sich ihrem Vorstellungsvermögen vollständig entzieht und dazu ihre eben nicht so Goldene Regel aus ihrer Sicht immer selbsterfüllend ist. Von Problemen, wie dem damit meist einhergehenden Politik- und Rechtsverständnis, ganz zu schweigen.

Die Hölle sind andere Menschen, weil wir in gewissem Sinne für immer in ihnen gefangen sind, abhängig von ihrem Verständnis von sich selbst.


Nun habe ich allerdings auch keinen Bock auf diesen Pessimismus, dass alle Menschen scheiße seien und es sich daher nicht lohnen würde, sich selbst Mühe zu geben. Und da ich auch mit anderen Menschen zu tun habe, selbst in einem gesunden Sinne an Eigenverantwortung appelliere und zu leben versuche: Wir können auch mit „solchen“ Menschen umgehen und gemeinschaftlich in dieser Welt leben, während wir dabei unseren Teil dazu beitragen, dass sie ein besserer Ort wird. Dass wir trotzdem vertrauensvoll miteinander umgehen können – vielleicht nicht absolut, aber eben deutlich öfter als eben nicht, und so eine Goldene Regel funktionieren kann.

Mein Vorschlag für diese Goldene Regel ist „gewinnen und gewinnen helfen“. Und um sie praktisch umzusetzen: Fang auf freundliche und aufgeschlossene Art und Weise an. Wenn es ein paar Missverständnisse gibt, sei nachsichtig. Und dann ist „wie du mir, so ich dir“ im besten Sinne positiv verstärkt wie auch angemessen negativ Grenzen setzend vollkommen angebracht. Langfristig ist das eine Strategie, von der du selbst und wir alle tatsächlich profitieren.

Denn unser Problem sollte nicht sein, dass wir über das Verhalten von Empathie-befreiten Menschen das Vertrauen in Menschen an sich verlieren, sondern das Anerkennen der Lösung, dass wir uns aktiv bemühen müssen, unsere Umwelt so zu gestalten, dass sie Vertrauen fördert. Wir sind unsere gegenseitige Umwelt, und aus der sehr kurzfristigen Sicht von jeder-gegen-jeden-Menschen bestimmt das Spiel die Spieler:innen. Allerdings sind es langfristig alle Menschen, die das Spiel bestimmen.

Es stimmt: Du musst dich unbedingt um dich selbst kümmern, das ist wichtig. Denn wenn du das nicht tust, kannst du anderen nicht helfen zu gewinnen. Und dann tu das auch.