Oder genauer: „Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Theorie der Ich-Entwicklung von Jane Loevinger und der Theorie der Entwicklungsstufen des Selbst von Robert Kegan.“


Diesen Text habe ich vor allem als Zusammenfassung für mich selbst geschrieben1 – ich setze grundsätzliches Wissen über beide Theorien voraus2. Bitte lies gegebenenfalls die Links von oben durch, um wenigstens einen qualitativen Eindruck von ihnen zu haben und zu wissen, wo und wie Stufen einzuordnen sind.

Und wenn ich hier von Unterschieden spreche, dann beziehe ich mich auf die jeweiligen Herangehensweisen zur Messung der Ich-Entwicklung, und wie beide Theorien in Bezug zueinander gesetzt werden können.

Übersicht

Ich-Entwicklung nach Jane Loevinger

Die Ich-Entwicklung von Jane Loevinger ist ein Stufenmodell der Persönlichkeitsentwicklung in der Entwicklungspsychologie. Es basiert auf Messungen durch den Satzergänzungstest WUSCT, einem projektiven Test, mit dem psychische Phänomene gemessen werden, indem die psychologische Projektion einer Person erfasst und quantifizierbar gemessen wird.

Was ist nach Loevinger das Ich, das sich entwickelt? „Das nach Kohärenz strebt“ und „das Ding, das wir messen“.

Dieses Modell der Ich-Entwicklung und die dazugehörige Messmethodik gilt als eines der bestgesicherten Stufenmodelle der Entwicklung.3 Empirische Analysen weisen darüber hinaus darauf hin, welches Mindestniveau an persönlicher Reife für effektive Entwicklung erforderlich ist – und dass ein großer Prozentsatz von Erwachsenen die dafür notwendigen Einsichten noch nicht erlangen und danach handeln.4

Ich-Entwicklung nach Robert Kegan

Auch die Entwicklungsstufen des Selbst von Robert Kegan sind ein Stufenmodell der Persönlichkeitsentwicklung der Entwicklungspsychologie. Zunächst wurde es durch klinische Interviews gemessen, die später durch das sogenannte „Subject Object Interview“ (Subjekt-Objekt-Interview) verfeinert wurden, und aktuell (indirekt) durch das „Constructive Developmental Framework“ (konstruktiver Rahmen für Entwicklung).

Robert Kegan verfolgt (nicht nur) mit diesem Modell einen konstruktivistischen Ansatz der Entwicklungspsychologie, sowie die Idee, dass sich in der Entwicklung von Personen Phasen der Stabilität mit solchen der Veränderung abwechseln.

Dabei kann ihm eine analytische Beschreibung von Bedeutungskonstruktion zugesprochen werden.

Zusammenfassende Gegenüberstellung

Loevinger Kegan
Auf Messungen basierend Begründungs-/Strukturbasiert
Umfassendes empirisches Material Nicht so umfangreich
Satzergänzungstests Klinische Interviews
Übergänge nicht beschrieben Übergänge erklärt
Psychometrisch Konstruktivistisch

Gemeinsamkeiten

Beide verstehen unter dem Ich Bedeutungskonstruktion. Dabei finden sich jeweils drei Dimensionen (Loevinger nach Susanne Cook-Greuter):

Loevinger Kegan
Wissen Kognitiv
Sein Affektiv
Tun Verhalten

Letztlich messen und beschreiben beide also dieselbe Sache.

Gemein haben beide Theorien außerdem auch, dass in der Ich-Entwicklung keine Stufe „übersprungen“ werden kann.

Ebenso zeigen beide, dass sie wissenschaftlich fundiert sind, und dass sich persönliche Reife mittlerweile valide messen und auch gezielt fördern lässt.5

Und wie lassen sich die beiden Theorien in ihren Stufen nun in Bezug zueinander stellen? Dafür eignet sich das „Model of Hierarchical Complexity“ (Modell der hierarchischen Komplexität, MHC):

Das Modell der hierarchischen Komplexität

Das Modell der hierarchischen Komplexität ist eine formale Theorie und ein mathematisch-psychologisches Instrument, um zu bewerten, wie komplex ein Verhalten ist. Es ist dabei kultur- und speziesübergreifend valide: Die Bewertung hängt nicht vom Inhalt der Informationen ab – wie etwas getan, gesagt, geschrieben oder analysiert wird –, sondern davon, wie die Informationen organisiert sind; die Stufen der Komplexität in der Struktur.

Dafür beinhaltet das Modell 17 Stufen an zunehmender Komplexität. Eine Stufe der Komplexität wird erreicht, indem mindestens zwei Elemente aus der vorherigen Stufe erfolgreich koordiniert werden.

Daraus ergibt sich zwangsläufig diese Frage:

Warum können wir Bedeutungskonstruktion nicht als eine Aufgabe sehen, die wir mit Punkten bewerten können?

Bedeutungskonstruktion sind die nicht-hinterfragten Annahmen, die wir über die Welt, über andere, darüber, wer wir sind und was wir tun sollten, machen. Das ist schwer zu bewerten, da wir das oft nicht formulieren können, weil wir nicht über sie nachdenken können.

Wenn wir das MHC auf Kegans Strukturbeschreibung anwenden, da es weniger Stufen als die Theorie von Loevinger hat, erhalten wir strengere und striktere Definition von Struktur und Stufe, mehr Stufen sowie ausführlichere Beschreibung der Übergangsstufen.6 Und es reicht nicht aus, die vorherige Stufe als Objekt zu nehmen – wir müssen mindestens zwei Elemente koordinieren.

Die Stufen von Loevinger und Kegan nebeneinander

Durch die Anwendung des MHC komme ich daher zu diesem Ergebnis:

MHC Loevinger Kegan
8 (konkret) Selbstorientiert Souverän
9 (abstrakt) Gemeinschaftsbestimmt Zwischenmenschlich
10 (formal) Rationalistisch
11 (systematisch) Eigenbestimmt Institutionell
Relativierend
12 (metasystematisch) Systemisch Überindividuell

tl:dr;

„Besser“ ist keine der beiden Theorien – sie erlauben eine jeweils andere Sicht auf dieselbe Sache: Bedeutungskonstruktion. Loevinger misst dabei Inhalt und Struktur, und Kegan modelliert die Struktur der Bedeutungskonstruktion.

Darüber hinaus, in den Worten von Robert Kegan:7

„Wir haben jetzt zwei hoch entwickelte, reliable und weitverbreitete Messverfahren, um geistige Komplexität in dem hier besprochenen Sinne zu bestimmen. […] Beide Studien […], jede mit komplett unterschiedlichen Stichproben durchgeführt, erreichen die gleichen Ergebnisse – dass bei der Mehrheit der Personen die geistige Komplexität noch nicht die institutionelle Stufe [Anmerkung von mir: S4 bei Kegan, analog E6 bei Loevinger] erreicht hat.“

Robert Kegan

Mich persönlich spricht der konstruktivistische Ansatz von Kegan mehr an. Er erlaubt aus meiner Sicht einen praktischeren Ansatz zum Abgleich mit der Umwelt. In einem professionellen Kontext sind beides gleichwertige Werkzeuge, die entsprechend zum Einsatz kommen.

Fußnoten

  1. Okay, und es wäre auch der Titel, nachdem ich suchen würde. ↩︎
  2. Ich werde in späteren Texten die Theorie von Jane Loevinger sowie das Modell der hierarchischen Komplexität von Michael Commons und Francis Richards noch im Detail vorstellen. ↩︎
  3. Siehe „Ich-Entwicklung für effektives Beraten“ von Thomas Binder↩︎
  4. Nach Susanne Cook-Greuter. Das ist wohl auch analog zu Lawrence Kohlberg, der sagte, dass nicht alle Menschen in ihrer Moralentwicklung voran schreiten können. ↩︎
  5. Und in einer persönlichen Beurteilung: dass Ich-Entwicklung kein Feld der Esoterik sein muss. Oder sollte. ↩︎
  6. Die Übung wird den Leser:innen überlassen. ↩︎
  7. Vorsicht, Stufe 3! ↩︎

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